Gorgoroth „Schock-Performance“ (2004)

Gorgoroths „Schock-Performance“ (2004)

Im Februar 2004 inszenierte die norwegische Black-Metal-Band Gorgoroth in einem Krakauer TV-Studio eine Bühnenshow, die in Polen einen Sturm der Empörung auslöste. Eine Geschichte über Blut und Blasphemie, über Kunstfreiheit und Tabubruch – und ein Ereignis, das bis heute als eines der extremsten Kapitel der Rockmusikgeschichte gilt.



Planung und Hintergründe

Es ist Anfang 2004, und in der extremen Metal-Szene braut sich etwas zusammen, das die Grenzen des bisher Dagewesenen sprengen wird. Die norwegische Black-Metal-Band Gorgoroth – berüchtigt für ihre kompromisslos satanischen Texte und ihr finsteres Auftreten – plant einen besonderen Auftritt im Ausland. Gitarrist Infernus und Sänger Gaahl, beide bekennende Satanisten, schmieden mit ihren Mitstreitern den Plan für eine Show, die in Erinnerung bleiben soll. Krakau in Polen ist als Schauplatz ausgewählt, und es soll nicht irgendein Konzert werden: Es soll eine schwarze Messe des Black Metal werden, eingefangen für die Ewigkeit auf Film.

Warum gerade Polen? Einerseits besitzt Polen eine leidenschaftliche Metal-Fangemeinde und ein aktives Netzwerk von Veranstaltern – die Krakauer Produktionsfirma Metal Mind Productions lädt Gorgoroth ein, um ein Live-Konzert für eine DVD mitzuschneiden. Andererseits ist Polen ein zutiefst katholisch geprägtes Land. Ein Auftritt voller satanischer Symbolik würde hier auf besonders empfindlichen Boden fallen. Gorgoroth ist das bewusst – ja, es reizt sie sogar. Die Band hat sich bereits einen Namen gemacht, indem sie Tabus bricht und religiöse Gefühle ignoriert. Nun bieten sich ihnen in Krakau die Ressourcen, um ihre düsteren Visionen mit professioneller Technik umzusetzen: Ein Fernsehstudio, Kameraleute, Bühnentechniker – und freie Hand bei der Gestaltung ihres Schreckensszenarios.

In den Wochen vor dem Konzert laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Es soll kein Detail gescheut werden, um die Atmosphäre eines blasphemischen Rituals heraufzubeschwören. Gorgoroth plant, echte Schafsköpfe als makabere Dekoration aufzuspießen – ein Bild, das an dunkle Rituale und Opferzeremonien erinnert. Über achtzig Liter frisches Blut werden bestellt, vermutlich über Schlachthöfe und Metzgereien, um die Bühne wortwörtlich in eine blutgetränkte Kulisse zu verwandeln. Auch das Kruzifix als zentrales Symbol des Christentums wird pervertiert: Statt der heiligen Figur sollen nackte Menschen an Kreuze gebunden auf der Bühne stehen, wie lebende, geschundene Opfer in einer schwarzen Messe. Um geeignete Freiwillige – oder Komparsen – für diese Rolle zu finden, wird in der polnischen Untergrundszene und Kunstszene gesucht. Schließlich melden sich mehrere Modelle bereitwillig, obwohl sie wohl nur vage ahnen, was sie an jenem Abend erwarten wird.

Die Beteiligten ahnen, dass sie etwas Hochgradig Provokatives erschaffen. Hinter verschlossenen Türen mag es leise Bedenken geben: Könnte diese Show Ärger mit den Behörden geben? Doch die Verantwortlichen wiegeln ab. Tomasz Dziubiński, der Chef von Metal Mind Productions, ist selbst Metal-Enthusiast und wittert die Chance, eine legendäre Performance für die Nachwelt festzuhalten. Er sorgt dafür, dass alle benötigten „Requisiten“ – seien es Tierkadaverteile, Kunstblut in rauen Mengen oder Fackeln und umgedrehte Kreuze – rechtzeitig im Studio ankommen. Die Band lässt durchsickern, dass sie keinerlei Kompromisse eingehen wird. Wenn Gorgoroth nach Krakau kommen, dann nur unter der Prämisse völliger künstlerischer Freiheit, mögen die Inhalte auch noch so schockierend sein. Für Gaahl, Infernus und Co. ist diese Show mehr als ein Konzert: Es ist ein Statement. Sie wollen der Welt – und wohl insbesondere der frommen polnischen Gesellschaft – demonstrieren, was es heißt, wenn satanische Kunst auf keine Grenzen Rücksicht nimmt.

Der Termin steht: 1. Februar 2004, ein Sonntagabend. Ort des Geschehens: das Fernsehstudio Krzemionki in Krakau, normalerweise Heimat harmloser Unterhaltungssendungen des staatlichen Senders TVP. Doch an diesem Wochenende verwandelt sich das Studio in eine unheilige Kathedrale des Lärms. Ein ausgewähltes Publikum von Metal-Fans erhält Zutritt – man verspricht ihnen eine Show, die gefilmt wird, vielleicht sogar live übertragen. Die Luft ist elektrisierend: Sowohl die Band als auch die Crew spüren, dass hier gleich etwas passieren wird, das keiner so schnell vergessen wird. Im Hintergrund stehen Kühlboxen mit blutigen Schafsköpfen bereit, Eimer voller dunkelroter Flüssigkeit, Requisiten, die an Folter und Sakrileg erinnern. Die Bühne ist aufgebaut, die Kreuze errichtet. Es gibt kein Zurück mehr. Was als ambitioniertes Filmprojekt für eine Live-DVD geplant ist – unter dem bezeichnenden Arbeitstitel “Black Mass Krakow 2004” – wird in Kürze Realität.

Die Show in Krakau: Blut und Blasphemie auf der Bühne

Die Uhr nähert sich der Konzertstunde an jenem Abend des 1. Februar 2004. Im abgedunkelten Studio drängen sich die Zuschauer – vielleicht ein paar Dutzend auserwählte Fans – um die Bühne. Eine unheilvolle Stille liegt in der Luft, unterbrochen nur vom Knistern der Fackeln und einem dumpfen Herzschlag-Intro aus den Lautsprechern. Die Spannung ist greifbar. Dann, plötzlich, explodieren grelle Lichter und ohrenbetäubender Lärm: Gorgoroth betreten die Bühne.

Vorne am Mikrofon steht Gaahl, hochgewachsen, bleichgeschminkt im typischen Corpsepaint-Stil, seine Augen schwarz umrandet wie leere Höhlen. Er trägt lederne Armschienen besetzt mit langen Nägeln, die im Scheinwerferlicht funkeln. Neben ihm thrashen Infernus und sein zweiter Gitarrist mit ihren Instrumenten, finstere Gestalten ganz in Schwarz, bewehrt mit Nieten und Stacheln. Der Bassist, King ov Hell, senkt bedrohlich den Kopf im Takt, während hinter ihnen der Schlagzeuger wie ein Besessener das Tempo vorgibt. Die Band setzt mit voller Wucht ein – das erste Lied donnert los, angeblich Procreating Satan, ein Titel, der die Marschrichtung vorgibt. Ein infernalischer Klangteppich wälzt sich durch das Studio und versetzt das Publikum in Schock und Extase zugleich.

Erst jetzt entfaltet sich die ganze grausige Bühnenkulisse vor den Augen der Anwesenden. Auf Holzpflöcken rund um das Drumkit sind ungefähr zehn abgetrennte Schafsköpfe aufgespießt. Die leeren Augen der Tierköpfe starren ins Leere, während ihr Blut in Rinnsalen über die Stangen läuft. In der Luft hängt der schwere metallische Geruch von Blut und rohem Fleisch, vermengt mit dem beißenden Rauch von Fackeln oder Kerzen, die irgendwo auf der Bühne flackern. In der Mitte des Sets ragen mehrere große Kreuze empor – doch anstelle eines Korpus Christi sind daran lebende Menschen befestigt. Nackt und mit Kunstblut übergossen hängen sie mit ausgestreckten Armen wie gekreuzigt. Zwei Frauen und zwei Männer – oder sind es vier Frauen? – winden sich leicht, bemüht, in ihren Fesseln auszuharren, während um sie herum das musikalische Inferno tobt. Die Scheinwerfer tauchen die Szene in pulsierendes rotes Licht, als würde die Hölle selbst aufleuchten.

Gaahl schreitet über die Bühne wie ein Hohepriester einer dunklen Messe. Hin und wieder taucht er seine Hand in einen Eimer mit Blut und besprengt damit das Publikum in den vorderen Reihen, oder er übergießt sich selbst damit, bis sein bleiches Gesicht und sein nackter Oberkörper rot glänzen. Achtzig Liter Schafsblut sollen an diesem Abend zum Einsatz kommen, und es scheint, als ob kein Tropfen ungenutzt bleibt – der Bühnenboden ist bald rutschig und schwarzrot gefleckt. Die Musiker waten förmlich durch Blutlachen, während sie ihre Songs herunterpeitschen. Jeder Akkord, jeder Schrei wird begleitet von diesem visuellen Overkill. Die Fans reagieren unterschiedlich: Einige reißen ekstatisch die Arme in die Höhe und skandieren begeistert, andere stehen schlicht mit aufgerissenen Augen da, überwältigt von dem, was sich vor ihnen abspielt. Vereinzelt huscht Ungläubigkeit über ihre Gesichter – selbst in der abgebrühten Metal-Szene hat man so etwas noch nicht gesehen.

Das Konzert entfaltet sich wie ein höllisches Ritual. Song um Song steigert sich die Atmosphäre. Bei Stücken wie “Possessed by Satan” brüllt Gaahl mit manischer Inbrunst, als beschwöre er dunkle Mächte direkt im Studio. Infernus und die Musiker agieren konzentriert, fast tranceartig – sie lassen sich von der bizarren Szenerie nicht beirren, schließlich stammt sie aus ihren eigenen Visionen. Die gekreuzigten Statisten an den Kreuzen atmen stoßweise; man kann nur erahnen, was in ihnen vorgeht, während unter ihnen das Blut der geschlachteten Schafe den Bühnenboden tränkt und die ohrenbetäubenden Klänge durch Mark und Bein gehen. Eine der jungen Frauen am Kreuz beginnt zu schwanken. Der kalte Stahl der Fesselungen, das lange reglose Stehen und die psychische Belastung fordern ihren Tribut: Ihr wird schwarz vor Augen. Mitten im Lied sackt sie bewusstlos in ihren Halteseilen zusammen. Sofort eilen Helfer herbei, lösen die Lederriemen und tragen die besinnungslose Darstellerin behutsam von der Bühne. Das Publikum registriert es nur am Rande – zu dominant sind Lärm und Licht. Später wird man erfahren, dass die Frau vor Schock und Anstrengung ohnmächtig wurde und ins Krankenhaus gebracht werden musste.

Doch die Show geht gnadenlos weiter. Gorgoroth ziehen ihr Set durch, als seien sie im Rausch. Blut tropft von Gaahls Haar, während er mit irrem Blick ins Publikum stiert. In den ersten Reihen spürt man Spritzer der warmen Flüssigkeit auf der Haut; einige Fans halten sich Tücher oder Shirts vors Gesicht, andere lecken sich provokant das Blut von den Lippen. Die Atmosphäre hat etwas Unwirkliches: Hier findet kein gewöhnliches Rockkonzert statt, sondern eine Inszenierung reiner Blasphemie. Die Beschallung erreicht Schmerzgrenzen, die Bilder gleichen einem Splatterfilm – doch all das geschieht in echt, jetzt und hier, in diesem Fernsehstudio im Herzen von Krakau.

Nach rund einer Stunde erreicht das Spektakel seinen Höhepunkt. Mit dem letzten Song – passend könnte er “Incipit Satan” heißen, „Satan beginnt“ – steigert sich die Band zu einem Finale furioso. Noch ein letztes Mal lodern Flammen auf, nochmals schreit Gaahl seinen gellenden Schrei gen Deckenränge, während Infernus ein letztes dreckiges Riff aus der Gitarre wringt. Dann erlischt abrupt das Licht. Zurück bleibt Dunkelheit – und das entsetzte Raunen und vereinzelte hysterische Jubeln des Publikums. Für einen Moment ist nicht klar, ob das Konzert vorbei ist oder ob noch etwas kommt. Schließlich gehen schummrige Notlichter an. Die Mitglieder von Gorgoroth sind bereits von der Bühne verschwunden, als wollten sie Geistern gleich im Dunkel entfleuchen. Übrig bleibt eine verwüstete Bühne: umgestürzte Kreuze, Blutlachen, die langsam gerinnen, zerstampfte Schafsköpfe und der schwache, stechende Geruch von Eingeweiden, der in der Luft hängt. Einige Zuschauer stehen noch wie angewurzelt, andere applaudieren zaghaft oder johlen, unsicher, wie man nach so einer Darbietung reagieren soll. Ihnen allen ist jedoch bewusst: Sie haben soeben Zeugnis von etwas Ungeheuerlichem abgelegt.

Draußen in der kalten Krakauer Winternacht lösen sich die Besucher in kleinen Grüppchen auf und verschwinden in die Dunkelheit. Manche lachen nervös, andere schweigen verstört. In ihren Köpfen dürften sich die Bilder der soeben erlebten “Schock-Performance” eingebrannt haben. Noch ahnt niemand, dass dies erst der Anfang eines Skandals ist, der weit über die Metal-Szene hinaus Wellen schlagen wird – doch die ersten Funken davon liegen bereits in der Luft.

Unmittelbare Reaktionen: Veranstalter, Publikum, Medien

Hinter den Kulissen des nun still gewordenen Studios herrscht unmittelbar nach dem Ende des Auftritts Fassungslosigkeit. Mitarbeiter des TV-Studios laufen hektisch umher – einige um den Schaden zu begutachten, andere um schlicht das Gesehene zu verarbeiten. Der für die Produktion zuständige Regisseur und das Team von Metal Mind Productions sind bleich: Ihnen dämmert, dass diese Nacht Folgen haben wird. Der Boden ist ruiniert, die Requisiten ein Fall für die Müllverbrennung, aber das ist das Geringste. Viel gravierender ist, dass die Show in einem staatlichen Fernsehstudio stattgefunden hat und Teile davon tatsächlich über den regionalen TV-Kanal ausgestrahlt wurden. Schon während der Performance hatten entsetzte Zuschauer vor den Fernsehgeräten zum Telefon gegriffen, um bei der Sender-Hotline Beschwerde einzulegen. Was sich auf ihren Bildschirmen abspielte – nackte, gekreuzigte Menschen, umgeben von Tierkadavern und Blut – überschreitet alles, was man je auf einem polnischen Sender gesehen hatte.

Der Direktor des Krakauer TV-Senders ist außer sich, als er von dem Vorfall erfährt. Er hatte der Metal-Show wohl zähneknirschend zugestimmt, ohne mit solchen Bildern zu rechnen. „So etwas darf im staatlichen Fernsehen nicht passieren – und schon gar nicht in Krakau, der Stadt des Papstes!“, poltert er lautstark gegenüber Mitarbeitern und Journalisten in den Stunden nach dem Konzert. Sein Hinweis auf Krakau als „Papas Stadt“ unterstreicht die besondere Brisanz: Karol Wojtyła, Papst Johannes Paul II., stammt aus dieser Stadt, und das konservative katholische Lager sieht Krakau als ein spirituelles Herz Polens. Dass ausgerechnet hier eine „Teufelsmesse“ auf Sendung ging, grenzt in ihren Augen an einen Affront sondergleichen.

Währenddessen taumeln die Konzertbesucher nach Hause oder in nahegelegene Kneipen. Dort beginnen sofort hitzige Diskussionen: Was hat man da gerade gesehen? Einige Fans sind euphorisiert – sie schwärmen in den höchsten Tönen von der „krassesten Show aller Zeiten“ und fühlen sich wie Eingeweihte in ein extremes Geheimnis. Andere zeigen sich verstört. „Das ging zu weit“, murmelt ein junger Mann mit blutbespritztem T-Shirt fassungslos in sein Bierglas, während ein Kumpel neben ihm stolz ein abgebrochenes Horn eines Schafsschädels präsentiert, das er sich als makabres Souvenir vom Bühnenrand geangelt hat. In den folgenden Stunden tauchen im Internet auf ersten Metal-Foren und Chatrooms Berichte von Augenzeugen auf. Die Szene ist elektrisiert: Ist das die ultimative Provokation oder nur geschmackloser Schockeffekt? Noch hat sich die Nachricht nicht weit über den Untergrund hinaus verbreitet, aber das sollte sich am nächsten Morgen ändern.

Die polnischen Medien greifen den Vorfall am Montag mit voller Wucht auf. Schon in den Frühnachrichten wird von einem „Skandal-Konzert“ berichtet. Lokale und überregionale Zeitungen senden Reporter nach Krakau oder telefonieren die Verantwortlichen ab. Schlagzeilen wie „Satanistischer Eklat im TV-Studio“ oder „Blut und Blasphemie live im polnischen Fernsehen“ prangen auf den Titelseiten. In Radiosendungen überschlagen sich die Moderatoren mit ihrer Empörung: Ein solches Spektakel sei beispiellos und eine Schande für den Sender wie für das ganze Land. Schnell sind Begriffe wie „Skandal-Show“ oder eben „Schock-Performance“ in aller Munde, um das Geschehene zu beschreiben.

Der Veranstalter Metal Mind Productions und sein Chef Dziubiński stehen umgehend am Pranger. Journalisten belagern seine Büroleitung mit Fragen: Wie konnte er das zulassen? Wusste er nicht, dass so etwas gegen Gesetze verstoßen könnte? Dziubiński gibt sich zunächst wortkarg oder ist für Kommentare nicht erreichbar. Hinter den Kulissen dürfte er fieberhaft damit beschäftigt sein, Schadenbegrenzung zu betreiben. Aber es ist zu spät: Die Empörungswelle hat bereits Fahrt aufgenommen. Noch ehe sich die Staubwolken im Studio gelegt haben, ziehen dunkle Wolken am Horizont auf – in Form von Polizeiermittlungen und politischem Druck, der nun mit Macht auf die Beteiligten zukommt.

Juristische und politische Konsequenzen in Polen

Noch während die Empörung in der Öffentlichkeit Fahrt aufnimmt, schalten sich die Polizeibehörden ein. Die Staatsanwaltschaft in Krakau eröffnet schon am Tag nach dem Konzert ein Ermittlungsverfahren. Der Vorwurf: Verletzung religiöser Gefühle gemäß Artikel 196 des polnischen Strafgesetzbuches, ein Straftatbestand, der bis zu zwei Jahre Freiheitsstrafe nach sich ziehen kann. Zudem wird geprüft, ob Verstöße gegen das Tierschutzgesetz oder andere Vorschriften – etwa die Schändung von Kadavern – vorliegen. Ermittler sichern Beweismaterial: Das aufgezeichnete Videomaterial der Show wird konfisziert, um es Bild für Bild zu sichten. Polizisten in weißen Spurensicherungsanzügen betreten die blutverschmierte Bühne im Studio Krzemionki, fotografieren Schafsköpfe und Blutlachen wie an einem Tatort. Für die polnischen Behörden ist klar: Hier ist etwas vorgefallen, das nicht folgenlos bleiben darf.

Die Politik reagiert ebenfalls umgehend. Regierungsvertreter – allen voran konservative Abgeordnete und Minister – verurteilen die Ereignisse scharf. Ein Sprecher des polnischen Kultusministeriums bezeichnet die Gorgoroth-Show als „abscheuliche Provokation“ und versichert, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen würden. Im Parlament fordert ein Abgeordneter einer christdemokratischen Partei eine Debatte über die Verschärfung der Gesetze gegen Blasphemie und obszöne Darstellungen. Krakauer Stadträte berufen Krisensitzungen ein, um zu beraten, wie man ähnliche Vorfälle in Zukunft verhindern könne. Einige nationale Politiker nutzen den Vorfall gar für allgemeine kulturkämpferische Töne: Man müsse wachsam sein gegenüber „dekadenten Einflüssen aus dem Westen“, heißt es, und die polnische Jugend vor Satanismus und moralischer Verrohung schützen.

Im Fokus der juristischen Verfolgung steht zunächst die Band selbst: Gorgoroth, diese fremden Provokateure, die nach Polen gekommen sind, um die Gefühle der Gläubigen mutwillig zu verletzen. Da die Musiker jedoch nach dem Konzert umgehend das Land verlassen haben und nach Norwegen zurückgekehrt sind, konzentrieren sich die Behörden zunächst auf greifbare Beteiligte vor Ort. Der Produzent Tomasz Dziubiński und weitere Mitarbeiter von Metal Mind Productions werden ausführlich von der Polizei vernommen. Man will klären, wer genau für welche Entscheidung verantwortlich war. Haben die Organisatoren bewusst Gesetzesverstöße in Kauf genommen? Hätten sie die Darstellung von religiösen Symbolen in entwürdigender Weise verhindern müssen? Dziubiński verteidigt sich damit, er habe der künstlerischen Vision der Band vertraut und nicht gedacht, dass diese Vision strafrechtlich relevant sein könnte. Intern mag er argumentieren, dass die Norweger schlicht nicht über die polnischen Gesetze informiert waren – doch genau das bringt ihn selbst in Bedrängnis: Als Gastgeber hätte er es besser wissen und einschreiten müssen.

Die Ermittlungen ziehen sich über viele Monate hin. Inzwischen hat das Thema auch die Justizverwaltung in Norwegen erreicht, da polnische Behörden offiziell Informationen über die Bandmitglieder einholen. In Norwegen – einem Land, das keinerlei Blasphemiegesetze mehr strikt anwendet – sorgt die Nachricht, Gorgoroth könnten für eine Bühnenshow im Ausland ins Gefängnis kommen, für Stirnrunzeln. Doch in Polen wird der Fall mit Ernst vorangetrieben. Am Ende stehen im Jahr 2006 die ersten Entscheidungen an: Die Staatsanwaltschaft verkündet, dass gegen die Bandmitglieder keine Anklage erhoben wird. Man habe zwar festgestellt, dass objektiv der Tatbestand der Religionsbeschimpfung erfüllt sei, doch es fehle der Nachweis, dass die Norweger sich der Rechtswidrigkeit bewusst waren. Mit anderen Worten: Gorgoroth kommt mit einem blauen Auge davon, offiziell wegen Unwissenheit. Das Verfahren gegen die Musiker wird eingestellt.

Anders ergeht es dem polnischen Veranstalter. Gegen Tomasz Dziubiński wird Anklage erhoben, da er als örtlicher Produzent wissentlich eine gegen die öffentliche Ordnung und das religiöse Empfinden verstoßende Darbietung ermöglicht habe. Vor Gericht beruft sich Dziubiński zwar auf die Kunstfreiheit und darauf, dass er keine Zensur an ausländischen Künstlern üben wollte. Doch das Gericht zeigt nur begrenzt Verständnis. Im Juni 2007 fällt das Urteil: Dziubiński wird zu einer Geldstrafe von 10.000 Złoty (umgerechnet rund 2.500 Euro) verurteilt, außerdem muss Metal Mind Productions die Verfahrenskosten tragen. Eine angedrohte Haftstrafe bleibt ihm erspart, wohl auch, weil er bislang unbescholten war und das Gericht ein Zeichen setzen wollte, ohne eine Existenz zu zerstören. Die beschlagnahmten Videoaufnahmen des Konzerts wandern nicht etwa in den Müll, sondern werden – skurrilerweise – der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau übergeben, der ältesten Universitätsbibliothek des Landes. Dort werden sie im Archiv unter Verschluss gehalten, gleichsam als zeitgeschichtliches Dokument eines entgleisten Spektakels.

Mit dem gerichtlichen Nachspiel ist zumindest juristisch ein Schlussstrich gezogen. Politisch und gesellschaftlich jedoch hat das Ereignis eine Lawine losgetreten, die länger nachwirkt. Doch schon jetzt, wenige Wochen nach dem Konzert, steht fest: Die Gorgoroth-Show hat den polnischen Staat herausgefordert – und dieser hat mit dem Werkzeug des Gesetzes geantwortet.

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Empörung in Kirche, Politik und Öffentlichkeit

Das Echo aus den verschiedensten Teilen der Gesellschaft lässt nicht auf sich warten. Besonders die Kirchenvertreter schlagen Alarm: Hohe Geistliche der katholischen Kirche in Polen äußern binnen Tagen scharfe Kritik. Der Krakauer Erzbischof – tief erschüttert über das Geschehen in seiner Diözese – spricht von einer „satanischen Entweihung“ und ruft die Gläubigen dazu auf, für die Vergebung dieser Blasphemie zu beten. In den Sonntagsmessen der folgenden Woche wird das Thema vielerorts von den Kanzeln herab erwähnt: Priester geißeln die „Teufelsanbetung“ und mahnen die Jugend, sich von solcher Musik fernzuhalten. Sogar aus dem Vatikan in Rom vernimmt man indirektes Missfallen: Zwar äußert sich Papst Johannes Paul II. nicht persönlich zu dem Vorfall, doch polnische Bischöfe lassen durchblicken, dass die oberste Kirchenführung sehr wohl Kenntnis von dem „frevelhaften Spektakel“ in Krakau genommen hat. Für viele Gläubige ist der Auftritt eine Bewährungsprobe ihres Landes: Hat Polen, das so stolz auf seine christlichen Werte ist, nicht entschieden genug gegen die Ausbreitung des Satanismus aufbegehrt?

Politiker fast aller Couleur sehen sich genötigt, Stellung zu beziehen. Konservative und religiöse Parteien überbieten einander mit Empörung. Ein Abgeordneter der rechtskatholischen Liga der Polnischen Familien nennt Gorgoroth „Diener des Teufels“ und fordert ein lebenslanges Auftrittsverbot für die Band in Polen. Selbst aus der moderateren Regierungspartei kommen ungewohnt scharfe Töne: Man sei schockiert, heißt es, und werde in Zukunft stärker darauf achten, was für Inhalte in öffentlichen Einrichtungen stattfinden. Einige liberalere Stimmen mahnen zwar, man solle den Vorfall nicht nutzen, um eine generelle Zensur über unliebsame Kunst zu verhängen – doch im Mahlstrom der öffentlichen Empörung gehen diese differenzierten Töne beinahe unter. Stattdessen setzen sich Forderungen durch, „kulturelle Werte“ entschlossener zu verteidigen. Manch ein polnischer Politiker nutzt die Gelegenheit gar, um sich als Wahrer der nationalen Moral zu profilieren, was in der konservativen polnischen Wählerschaft auf Zustimmung stößt.

In der allgemeinen Öffentlichkeit – bei Leuten, die sonst mit Heavy Metal nichts zu tun haben – herrschen Entrüstung und Unverständnis vor. Leserbriefseiten der großen Tageszeitungen quellen über vor Zuschriften empörter Bürger. „Als gläubiger Katholik kann ich nicht fassen, dass so etwas in unserem Land erlaubt wurde“, schreibt etwa ein älterer Herr aus Warschau. Eine Mutter aus Krakau berichtet schockiert, ihr jugendlicher Sohn habe zufällig die TV-Übertragung gesehen und sie wisse nun nicht, wie sie ihm erklären solle, was da gezeigt wurde. Solche Stimmen dominieren die öffentliche Debatte: Viele Menschen fühlen sich persönlich angegriffen und fordern strikte Konsequenzen. Einige Elterninitiativen schließen sich mit kirchlichen Gruppen zusammen und organisieren Mahnwachen oder kleine Protestkundgebungen vor dem TV-Sender in Krakau – mit Rosenkränzen in der Hand beten sie für Wiedergutmachung und versichern, „die Dunkelheit“ aus ihrer Stadt vertreiben zu wollen.

Auch Tierschützer melden sich zu Wort. Organisationen wie die polnische Tierschutzliga und internationale Vereine verurteilen die Verwendung echter Tierköpfe und solcher Massen an Blut als verrohenden, unethischen Akt. Zwar sind die Tiere für den menschlichen Verzehr ohnehin geschlachtet worden, doch die Aktivisten kritisieren, dass man die Überreste für eine „kranke Show“ missbraucht habe. Im Fernsehen ist eine Vertreterin einer Tierschutzorganisation zu sehen, wie sie den Tränen nahe anklagt: „Diese sogenannte Kunst verhöhnt das Leiden von Lebewesen.“ Sie fordert strengere Regeln, damit Tierkörper nicht derartig öffentlich entwürdigt werden dürfen. Auch wenn die juristische Lage hier schwierig ist – streng genommen wurden keine Gesetze zum Tierschutz verletzt, da die Köpfe legal erworben wurden – so trägt doch die laute Kritik der Tierschützer zum moralischen Druck bei, der auf Band und Veranstaltern lastet.

Interessanterweise ist die polnische Metal-Subkultur selbst in dieser Frage gespalten. Einige Musiker und Fans aus der Szene stellen sich – trotz persönlicher Distanz zu Gorgoroths extremem Stil – hinter die Band und verurteilen das mediale „Hexenverbrennen“. In Fanzines und Online-Foren ist zu lesen, die staatlichen Reaktionen seien hysterisch und erinnerten an vergangene Zeiten der Inquisition. Andere jedoch, insbesondere aus dem moderaten Rock- und Metalbereich, gehen auf Distanz. Sie sorgen sich, dass der Vorfall das gesamte Genre in Verruf bringe und zukünftige Konzerte unter Generalverdacht stelle. Tatsächlich berichten örtliche Konzertveranstalter in den Wochen nach dem Skandal von verstärkten Kontrollen und Auflagen der Behörden. Plötzlich verlangt man detaillierte Bühnenskizzen und Programmbeschreibungen, bevor Genehmigungen erteilt werden. Die Kulturwelt Polens hat einen empfindlichen Schlag erlebt: Zwischen künstlerischer Freiheit und öffentlicher Moral tut sich ein Riss auf, der in den kommenden Monaten in vielen Talkshows und Feuilletons diskutiert wird. Gorgoroths „Schock-Performance“ avanciert dabei zum Symbol – je nach Standpunkt – entweder für entartete Kunst oder für die Grenzen dessen, was Kunst darf.

Internationale Berichterstattung und weltweite Wirkung

Über die Landesgrenzen hinaus bleibt das Ereignis nicht unbemerkt. In den Tagen nach dem Konzert machen Schlagzeilen wie „Norwegian Black Metal Band Shocks Poland“ (so der Titel eines norwegischen Zeitungsartikels) die Runde in internationalen Medien. In Gorgoroths Heimat Norwegen wird der Vorfall mit einer Mischung aus Belustigung und Interesse aufgenommen. Norwegische Kommentatoren weisen darauf hin, dass ihr Land in den 1990er-Jahren selbst drastische Black-Metal-Skandale erlebt hat – man erinnert sich an Kirchenbrandstiftungen und Gewalttaten jener Szene. Die Tatsache, dass nun eine norwegische Band im katholischen Polen aneckt, wird fast als kulturelle Anekdote verbucht. „Polen in Aufruhr über Satanisten-Show“ titeln einige norwegische Boulevardblätter, während seriösere Zeitungen nüchtern berichten, die Musiker könnten wegen ihres Auftritts strafrechtlich verfolgt werden. Mancher Norweger schüttelt den Kopf über die strengen polnischen Gesetze und fühlt sich ins Mittelalter zurückversetzt; gleichzeitig wächst im eigenen Land bei Fans der Stolz auf Gorgoroth, die es offenbar geschafft haben, weltweit für Furore zu sorgen.

Auch in Westeuropa und Nordamerika greifen Presseagenturen die Geschichte auf. Was Gorgoroth in Krakau angerichtet haben, schafft es als skurrile Meldung in einige große Tageszeitungen und Fernsehsender. Oft wird die Geschichte mit einem Augenzwinkern präsentiert – etwa in Großbritannien vergleicht ein Musikmagazin den Skandal mit einem „ultraharten Monty-Python-Sketch, der der polnischen Obrigkeit einen Herzinfarkt verpasst hat“. In den USA bringt die Technologie- und Kulturzeitschrift Wired einen Beitrag, der die Ereignisse mit dem zeitgleichen Super-Bowl-Skandal vergleicht: Während Amerika über Janet Jacksons entblößten Busen diskutierte, habe in Polen ein „echter höllischer Auftritt“ für Aufsehen gesorgt – mit Litern von Blut, aufgespießten Schafsköpfen und nackten Menschen am Kreuz. Solche internationalen Berichte zeigen oft ein Staunen darüber, dass Kunst in Europa noch strafrechtliche Folgen haben kann. Besonders in Ländern ohne Blasphemiegesetze löst das Vorgehen der polnischen Justiz Kopfschütteln aus. Freidenker-Organisationen und Befürworter künstlerischer Freiheit äußern leise Kritik an Polen: So entsetzlich oder geschmacklos die Show auch gewesen sein mag, die Androhung von Gefängnisstrafen wirke überzogen und rückständig, heißt es in manchen Kommentaren.

In der weltweiten Metal-Community hingegen verbreitet sich die Kunde von Gorgoroths Krakauer „Schwarzmesse“ wie ein Lauffeuer – vor allem durch Internetforen, Fanzines und Musikzeitschriften. Metal-Magazine in Deutschland, England, den USA und sogar Japan drucken Berichte und teilweise schockierende Fotos aus dem Publikum ab (einige dieser Bilder kursieren dank findiger Fans trotz Beschlagnahmung des offiziellen Filmmaterials). Die internationale Metalszene reagiert überwiegend fasziniert. Gorgoroth werden quasi über Nacht zu einem berüchtigten Namen. Wo sie zuvor eher Kennern der Black-Metal-Nische ein Begriff waren, kennt nun plötzlich jeder Fan extremer Musik die Geschichte dieser Band, die es wagte, im heilig-katholischen Polen die Bühne in ein Schlachthaus zu verwandeln. Für viele Anhänger des Genres ist das ein Stück rebellischer Mythos: Gorgoroth haben „es getan“ – sie sind keinen Kompromiss eingegangen, selbst auf die Gefahr hin, dafür verfolgt zu werden. In Fan-Kreisen entsteht um die Krakau-Show schnell eine Legende. Häufig heißt es bewundernd, das sei „der kontroverseste Black-Metal-Auftritt aller Zeiten“ gewesen. Gleichzeitig gibt es auch hier kritische Stimmen: Einige altgediente Metalheads monieren, Gorgoroth hätten mit diesem Spektakel der Szene einen Bärendienst erwiesen, da es nun noch schwerer werde, Konzerte ohne Auflagen durchzuführen. Andere belächeln die Aktion als plakative Effekthascherei, die von der Musik ablenke.

Dennoch: Die Aufmerksamkeit, die Gorgoroth durch den Skandal erlangen, hat auch greifbare Auswirkungen. Die Band erfährt einen Popularitätsschub – ihre Alben verzeichnen in den Monaten danach höhere Verkaufszahlen, und Interviews mit den Mitgliedern sind plötzlich international gefragt. Gleichzeitig distanzieren sich aber manche Geschäftspartner: Die renommierte Plattenfirma Nuclear Blast, die Gorgoroth zuvor unter Vertrag hatte, streicht die Band noch 2004 von der Liste einer geplanten Tournee durch Europa. Offiziell werden keine Gründe genannt, doch inoffiziell ist klar: Der Name Gorgoroth ist zu heiß geworden für Veranstaltungen im Mainstream-Metal-Bereich. Dennoch finden sich alternative Wege – kleinere Festivalveranstalter und Underground-Clubs in Südamerika und anderen Teilen Europas laden die Band gerade wegen ihres berüchtigten Rufs ein. So tritt Gorgoroth im Herbst 2004 bereits in Mittel- und Südamerika auf, wo sie von enthusiastischen Fans empfangen werden, die die Legende der Krakau-Show längst vernommen haben.

Insgesamt zementiert die internationale Berichterstattung Gorgoroths neuen Status als Symbol für Extreme im Metal. Aus einer von vielen Black-Metal-Bands aus Norwegen sind sie in gewisser Weise zu anti-heroischen Ikonen geworden – bewundert und berüchtigt zugleich. Ihr Name steht nun weltweit für den Mut (oder Wahnwitz), in der Musik alle Grenzen zu überschreiten und die Konsequenzen dafür in Kauf zu nehmen.

Die Reaktion der Band

Während in Polen und anderswo hitzig über Gorgoroth diskutiert wird, geben sich die Bandmitglieder selbst unbeeindruckt – zumindest nach außen hin. Gaahl, der Sänger und Wortführer, reagiert auf die Vorwürfe kühl und mit der für ihn typischen, nahezu stoischen Provokationslust. In einem Interview mit der norwegischen Presse kurz nach dem Vorfall weist er jede Anschuldigung von sich, man habe Tiere gequält: „Die Schafsköpfe haben wir ganz legal beim Metzger gekauft“, erklärt er nüchtern. „Wir haben keinem Lebewesen Leid zugefügt – das Material war bereits tot.“ Für Gaahl ist die ganze Aufregung scheinheilig. Er betont, niemand in der Band habe erwartet, dass der Auftritt an die breite Öffentlichkeit gelangen würde – ursprünglich habe man ja nur eine DVD aufnehmen wollen. Wenn nun aber alle Welt darüber rede, sei das eben so. Eine Entschuldigung oder gar Reue sucht man in seinen Worten vergeblich. Im Gegenteil: Gaahl besteht darauf, dass Gorgoroth lediglich ihre Kunst präsentiert haben. Ob diese Kunst religiöse Gefühle verletze oder nicht, sei ihm völlig egal – schließlich sei die Band offen satanistisch. In einem später bekannt gewordenen Gespräch mit einer skandinavischen Zeitung bringt er es auf den Punkt: „Diese Performance war nur die visuelle Verlängerung unserer Musik. Wir haben unsere Überzeugungen dargestellt. Wenn das manche schockiert, dann haben wir wohl ins Schwarze getroffen.“

Auch Infernus, Gorgoroths Gründer und Gitarrist, zeigt sich eher verwundert als zerknirscht über die polnische Reaktion. In einem Interview wenige Wochen nach der Show gibt er zu Protokoll, man habe nie beabsichtigt, einen solchen Wirbel auszulösen. „Wir wollten doch nur die DVD filmen. Der ganze Chaos danach hat uns selbst überrascht“, räumt er ein – allerdings mit einem Anflug von Ironie. Denn gleichzeitig stellt er fest, dass der Medienrummel der Band eher nutze als schade: „Was war das Schlimmste, das passieren konnte? Dass sie die Bänder zerstören? Das werden sie wohl kaum tun. Uns können sie nicht viel anhaben – höchstens den polnischen Produzenten vielleicht. Für uns bedeutet das vermutlich nur, dass wir ein paar Platten mehr verkaufen.“ Mit beinahe spöttischem Unterton kommentiert Infernus weiter, wenn die polnischen Behörden wirklich die Konzertmitschnitte vernichten wollten, „dann stecken sie dort wohl noch im Mittelalter fest“. Er hoffe jedenfalls, das Material eines Tages zurückzubekommen, um es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

King ov Hell, der Bassist, hält sich in der Öffentlichkeit weitgehend zurück, doch aus dem Umfeld der Band ist zu hören, dass auch er und die anderen Musiker die Kritik geschlossen zurückweisen. Kein Mitglied distanziert sich vom Auftritt; im Gegenteil, man wirkt nach außen hin eher stolz auf die Konsequenz, mit der man die eigene Vision durchgezogen hat. Intern mag der Druck der Ereignisse zwar auf ihnen gelastet haben – schließlich sahen sie sich mit Ermittlungen in einem fremden Land konfrontiert – doch davon lassen Gorgoroth sich nicht beirren. „Das ist nur eines unserer rechtlichen Probleme, wir haben schon größere bewältigt“, scherzt Infernus in Anspielung auf andere juristische Konflikte, in die er und Gaahl unabhängig von Krakau verwickelt sind. Der Tenor innerhalb der Band ist klar: Man bereut nichts und würde notfalls denselben Weg wieder gehen.

Als die polnische Staatsanwaltschaft 2006 die Ermittlungen gegen die Musiker einstellt, fühlen sich Gaahl und Infernus in ihrer Haltung bestätigt. Sie hatten von Anfang an darauf gebaut, dass man ihnen letztlich nichts anhaben könne – und behielten recht. In Interviews in den Jahren danach sprechen sie über den Krakauer Abend fast schon gelassen, als handele es sich um eine weitere Episode in der Chronik der Band, die eben für Extreme steht. Eine Anekdote besagt, dass Gaahl bei einem späteren Festival in Norwegen mit einem diabolischen Grinsen gefragt haben soll, ob das Publikum bereit für „eine Reise zurück nach Krakau“ sei, bevor die Band einen besonders blasphemischen Song anstimmte. Wahrscheinlich ist diese Geschichte apokryph, doch sie passt zum Bild: Gorgoroth nehmen den Ruf, der ihnen nun vorauseilt, dankbar an und verweigern jede Unterwerfung unter gesellschaftliche Erwartungen.

Nicht einmal ansatzweise kommt ein Wort des Bedauerns über ihre Lippen. Kunstfreiheit und authentischer Ausdruck – das sind für Gorgoroth keine Worthülsen, sondern gelebte Prinzipien. Insofern sehen sie sich eher als Opfer einer engstirnigen Gesellschaft, denn als Täter. „Wir haben gezeigt, dass wir erwachsene Menschen sind, die Satanismus als Lebensstil praktizieren und Metal-Musik aufführen – wenn das Aufmerksamkeit erzeugt, umso besser“, resümiert Infernus. Dieses trotzig-stolze Selbstverständnis prägt die Band in den Nachwehen des Skandals: Gorgoroth lassen sich nicht beugen, sondern gehen gestärkt und mit erhobenem Haupt aus der Kontroverse hervor.

Nachwirkungen für Gorgoroth

Für Gorgoroth selbst markiert der Krakauer Skandal einen Wendepunkt. In den Monaten danach muss die Band ihre Position neu ordnen. Geschäftlich ziehen sich einige bisherige Partner zurück: Die deutsche Plattenfirma Nuclear Blast, bei der Gorgoroth seinerzeit unter Vertrag standen, trennt sich nach dem Eklat von der Band. Offiziell ist von „gegenseitigem Einvernehmen“ die Rede, doch hinter vorgehaltener Hand heißt es, einigen Mitarbeitern des Labels sei Gorgoroths extreme Ausrichtung zunehmend unangenehm gewesen – die Krakau-Show war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ein geplanter Platz der Band auf einer großen Europa-Tournee von Nuclear Blast wird gestrichen; Gorgoroth sind plötzlich ohne Tourunterstützung und Label. Doch lange bleiben sie nicht heimatlos: Schon bald finden sie im kleineren schwedischen Label Regain Records einen neuen Partner, der weniger Berührungsängste mit kontroversem Image hat. 2006 veröffentlicht die Band dort ihr nächstes Studioalbum Ad Majorem Sathanas Gloriam, und es wird deutlich, dass Gorgoroth musikalisch keinen Deut leiser oder angepasster geworden sind.

Auch persönliche Veränderungen bleiben nicht aus. Nur wenige Wochen nach der Krakauer Show, im Frühjahr 2004, gibt Schlagzeuger Kvitrafn (Einar Selvik) seinen Ausstieg bekannt. Offiziell geschieht dies „aus privaten Gründen“, doch Szenekenner spekulieren, ob der junge Norweger der brisanten Mischung aus legalem Ärger und extremem künstlerischem Anspruch entfliehen wollte. Kvitrafn widmet sich fortan ruhigeren musikalischen Gefilden (er gründet später die nordische Folkband Wardruna) – ein Kontrastprogramm zum Blut-und-Blasphemie-Image Gorgoroths. Die Band ersetzt ihn prompt durch andere Schlagzeuger für anstehende Tourneen. Nach außen lässt sich Gorgoroth nicht anmerken, dass interne Spannungen existieren – im Gegenteil, Gaahl, Infernus und King ov Hell präsentieren sich bis Mitte des Jahrzehnts als geschlossene Front des Bösen, die weltweit auftritt und die Legende von Krakau im Gepäck hat.

Doch hinter den Kulissen gärt es. 2007 kommt es zum offenen Bruch: Infernus, der Gründer, und das Duo Gaahl/King ov Hell überwerfen sich in einem erbitterten Streit um die Zukunft der Band. Infernus verkündet zunächst eigenmächtig die Auflösung von Gorgoroth, was Gaahl und King umgehend kontern: Sie werfen Infernus aus „seiner“ Band und proklamieren, Gorgoroth ohne ihn weiterführen zu wollen. Es beginnt ein bizarrer Rechtsstreit um den Bandnamen, der die Black-Metal-Szene spaltet. Monatelang agieren zwei Lager: hier Infernus mit neuen Mitstreitern, dort Gaahl und King mit einem eigenen Line-up – beide beanspruchen den Namen Gorgoroth. Die Erben der Krakauer Schock-Performance liefern sich also ausgerechnet untereinander einen Kampf. Im Hintergrund spielen sicherlich viele Faktoren eine Rolle: Ego, musikalische Differenzen, vielleicht auch der unterschiedliche Umgang mit dem wachsenden Ruhm. Im Skandaljahr 2004 hatten Gaahl und King erheblich an Profil gewonnen und galten vielen Fans als die Gesichter der Band; Infernus jedoch, der Traditionalist, wollte die Kontrolle nicht aus der Hand geben.

Schließlich wird auch dieser Konflikt vor Gericht entschieden. 2009 fällt das norwegische Patentamt ein Urteil zugunsten von Infernus: Er allein darf den Namen Gorgoroth weiterführen. Gaahl und King müssen unter neuer Flagge segeln (sie gründen kurzzeitig die Band „God Seed“), während Infernus mit frischen Mitgliedern Gorgoroth weiterleben lässt. Ironischerweise erscheint just in dieser Übergangszeit, 2008, endlich die Live-DVD Black Mass Krakow 2004. Die von der polnischen Justiz einst einkassierten Aufnahmen werden – nach langem Tauziehen und vermutlich dank Dziubińskis Beharrlichkeit – offiziell veröffentlicht. Fans auf der ganzen Welt können nun das sehen, was zuvor nur wenige Auserwählte im Studio miterlebt hatten. Die DVD sorgt prompt erneut für Gesprächsstoff, landet in Norwegen sogar in den Musik-DVD-Charts, und führt der Band noch einmal vor Augen, welch singuläres Ereignis sie da geschaffen hat.

Juristisch hatten Gaahl und seine Mitstreiter im Krakau-Fall nichts mehr zu befürchten. Doch die Band blieb ein Synonym für Kontroverse. Fast symbolhaft dafür stehen die privaten Verstrickungen der Mitglieder: Gaahl muss 2006 eine Haftstrafe antreten, allerdings nicht wegen Krakau, sondern weil er einige Jahre zuvor in Norwegen einen Mann misshandelt hatte. Infernus wiederum kämpft zeitgleich mit Anklagen wegen eines Gewaltverbrechens (er wird 2005 erst verurteilt und 2006 in Berufung teilweise freigesprochen). Diese düsteren Schlagzeilen untermauern Gorgoroths Ruf als skandalumwitterte Formation zusätzlich. Dennoch: Künstlerisch lässt sich Gorgoroth nicht unterkriegen. Nach den internen Konflikten erholt sich die Band und veröffentlicht in neuer Besetzung weitere Alben. Der Schock von Krakau haftet ihnen dabei stets wie ein dunkler Schatten an – mal als Bürde in Form von Boykotten und Misstrauen, mal als Auszeichnung, die ihnen in den Augen ihrer Anhänger Authentizität und Unbeugsamkeit bescheinigt.

Rückblickend hat die Krakauer Performance Gorgoroths Werdegang geprägt wie kaum ein zweites Ereignis. Sie öffnete Türen zu neuer Bekanntheit, schuf aber auch Hindernisse und zerbrach alte Bündnisse. Die Band hat daran jedoch nicht zerbrochen. Im Gegenteil: Aus den Flammen – oder besser: aus den Blutlachen – dieser Kontroverse ist Gorgoroth letztlich gefestigt hervorgegangen, wenn auch in veränderter Form.

Resonanz in der internationalen Black-Metal-Szene

Innerhalb der internationalen Black-Metal-Szene hinterlässt die Krakauer „Schock-Performance“ tiefe Spuren. Das Ereignis wird schnell zum Referenzpunkt, wenn es um die Grenzen des Extremismus im Metal geht. Viele Black-Metal-Bands und Fans sehen in Gorgoroths Aktion eine Art ultimativer Konsequenz: Wo andere Bands vielleicht nur mit satanischen Symbolen spielen und die Provokation andeuten, habe Gorgoroth sie in die Tat umgesetzt – ungeachtet der Konsequenzen. In den Jahren nach 2004 wird die Frage „Würden wir so weit gehen wie Gorgoroth?“ in manchem Proberaum und Fanzine diskutiert. Einige Gruppen fühlen sich ermutigt, ihre eigenen Shows drastischer zu gestalten. So beginnen etwa die Schweden von Watain, berüchtigte Erben der satanischen Black-Metal-Tradition, vermehrt Tierblut und Kadaverteile in ihre Bühnendekoration zu integrieren – ein Stilmittel, das ihnen den Ruf einbringt, Gorgoroth in Sachen Bühnenextreme fast zu übertreffen. Auch andere Acts, ob in Südamerika oder Osteuropa, greifen die Idee des blutigen Rituals auf, sei es aus künstlerischer Überzeugung oder aus Kalkül, um Aufmerksamkeit zu erregen. Gorgoroths Krakauer Ritual steht Pate für eine ganze Welle von Versuchen, Schock und Musik zu verschmelzen, wenngleich kaum jemand dieses Niveau an kalkulierter Schreckensinszenierung erreicht.

Zugleich löst der Vorfall in der Szene Selbstreflexion aus. Veteranen des Genres wie Darkthrone oder Mayhem verfolgen die Aufregung teils mit Skepsis. Einige kommentieren, der wahre „Geist“ des Black Metal liege nicht in Bühnenshows, sondern in der Musik und Haltung – zu viel Theater könne fast schon als Anbiederung an den Massengeschmack gelten, auch wenn es schockierend ist. Gerade Puristen monieren, Gorgoroth hätten mit ihrer Aktion den Underground verraten, indem sie medienwirksam ein Spektakel inszenierten, das prompt vom Mainstream begierig aufgegriffen wurde. In Internet-Debatten jener Zeit findet man Stimmen, die Gorgoroth einen „Zirkus“ vorwerfen: Black Metal sei ernst gemeinte Rebellion, keine Show fürs Fernsehen. Andere halten dagegen: Gerade weil es im staatlichen Fernsehen stattfand, sei es doch der ultimative Schlag ins Gesicht des Establishments gewesen – also genau das, was Black Metal immer wollte. Diese Zwiespältigkeit in der Bewertung zieht sich durch viele Fan-Diskussionen.

Eines jedoch ist unbestritten: Gorgoroths Aktion hat das öffentliche Bild der Black-Metal-Szene nachhaltig beeinflusst. Für Außenstehende wird das Genre fortan noch stärker mit bizarren und gefährlichen Auftritten assoziiert. Wo vorher vor allem die berüchtigten Vorkommnisse der frühen 90er (Kirchenbrände, Gewaltverbrechen in Norwegen) das Bild prägten, tritt nun die Inszenierung als neue Facette hinzu. Konzertveranstalter und Festivalbetreiber weltweit werden vorsichtiger, wenn es um extreme Bands geht – nicht unbedingt wegen eigener moralischer Bedenken, sondern aus Angst vor Behörden und negativer Presse. Besonders in stark religiös geprägten Ländern wie Polen, aber auch Teilen Lateinamerikas oder den USA, beobachten Metal-Fans in den Folgejahren, dass Veranstaltungen öfter unter die Lupe genommen werden. So werden etwa in Polen in den späten 2000ern Auftritte von Bands wie Marduk oder Behemoth von Protesten begleitet, bei denen Gorgoroths Krakauer Auftritt immer wieder als abschreckendes Beispiel bemüht wird. Tatsächlich gerät 2007 der polnische Behemoth-Frontmann Nergal vor Gericht, weil er bei einer Show eine Bibel zerriss – ein direkter Widerhall der Debatte um Kunstfreiheit versus Blasphemie, die Gorgoroth ausgelöst hat.

Andererseits erfährt das Genre durch solche Kontroversen eine Art Berühmtheitsschub. Black Metal rückt in den Fokus von Dokumentarfilmern, Autoren und Kulturwissenschaftlern, die die Faszination des Düsteren ergründen wollen. In Filmen und Büchern über extreme Musik nimmt Gorgoroths Krakau-Show einen prominenten Platz ein – als Beispiel dafür, wie weit die Darsteller des Genres bereit sind zu gehen. Dies trägt dazu bei, dass Black Metal Ende der 2000er Jahre nicht mehr nur als musikalische Richtung, sondern als kulturelles Phänomen wahrgenommen wird, das Fragen über Kunst, Religion und Meinungsfreiheit aufwirft. Gorgoroth, ob sie es wollten oder nicht, haben mit ihrem blutigen Ritual diese Wahrnehmung mitgeformt.

In den Reihen der Black-Metal-Fans selbst bleibt die Krakauer „Black Mass“ ein Mythos. Noch Jahre und Jahrzehnte später wird darüber gesprochen, meist mit leuchtenden Augen und ehrfürchtigem Schaudern. Für viele Jünger der extremen Klänge markiert der 1. Februar 2004 eine Art modernen Legendenstoff: „Weißt du noch, damals, als Gorgoroth in Polen…?“ – eine Geschichte, die an Lagerfeuern von Festival-Campingplätzen immer wieder erzählt wird. Die Auswirkungen sind also auch identitätsstiftend: Die Szene hat nun ihre eigene Überlieferung eines Skandals, der so groß war, dass selbst die Welt außerhalb reagieren musste. Und egal, ob man die Aktion nun für genial oder geschmacklos hält – sie hat gezeigt, dass Black Metal auch im 21. Jahrhundert noch eine Kraft hat, die Fesseln des Akzeptablen zu sprengen.

Kunst, Provokation und die Grenzen des Erlaubten

Die Schock-Performance von Gorgoroth in Krakau 2004 ist längst mehr als ein isoliertes Ereignis der Musikgeschichte. Sie hat sich zu einem Symbol verdichtet – einem Symbol für den Zusammenprall von Kunst und Gesellschaft, von Provokation und Moral, von extremer Subkultur und etablierten Werten. In dem Moment, als die ersten Nachrichten über diese blutige Inszenierung um die Welt gingen, wurde offenkundig, welche Sprengkraft in Zeichen und Symbolen steckt. Ein paar Schafsköpfe, etwas Blut, nackte Körper an Kreuzen: Für die einen war es ein kalkuliertes Theater aus Schockelementen, für die anderen eine unerträgliche Entweihung des Heiligen. Dazwischen stand die Frage: Wie weit darf Kunst gehen?

Aus heutiger Sicht wirkt die Krakauer Show wie ein Lackmustest. Sie entlarvte die Bruchlinien innerhalb der offenen Gesellschaft. Auf der einen Seite steht das Prinzip der freien künstlerischen Entfaltung, das auch provozieren, irritieren und tabuisieren darf – ja vielleicht sogar muss, um neue Perspektiven zu eröffnen. Auf der anderen Seite stehen gesellschaftliche Tabus und ethische Grenzen, die selbst in liberalen Demokratien existieren und verteidigt werden. Gorgoroth traten mit ihrer Performance genau auf diese Grenzlinie – und überschritten sie bewusst. Damit zwangen sie ein ganzes Land, Stellung zu beziehen. Polens Reaktion zeigte, wie tief verwurzelt die christlichen Werte dort sind und wie wenig Toleranz für das vermeintlich „Heilige“ besteht, wenn es verunglimpft wird. Doch ebenso zeigte die internationale Diskussion, dass es viele gibt, die auch extreme Ausdrucksformen als Teil der Kunstfreiheit sehen.

Kulturell betrachtet offenbart dieses Ereignis den ewigen Tanz zwischen Provokation und Öffentlichkeit. Ähnliche Debatten hat es in der Kunstgeschichte immer wieder gegeben – man denke an empörte Aufschreie über obszöne Gemälde, an Theater-Skandale oder an Punkkonzerte, die einst als gemeingefährlich galten. Gorgoroths Konzert reiht sich in diese Tradition ein, jedoch mit einer eigenen, radikaleren Note: Hier ging es nicht um subtile Provokation, sondern um einen frontalener Angriff auf religiöse Gefühle. In einer Zeit, in der vieles kommerzialisiert und entschärft schien, erinnerte dieser Vorfall daran, dass Gegenkultur noch Zähne hat. Die Extremkultur des Black Metal, oft belächelt oder ignoriert, verschaffte sich Gehör – und sei es in Form eines kollektiven Aufschreis der Entrüstung.

Die symbolische Bedeutung des Krakauer Skandals liegt auch darin, dass er zum Nachdenken über Doppelmoral und Perspektiven anregt. Was den einen als abscheulich galt, feierten andere als mutig. Während polnische Würdenträger von Gotteslästerung sprachen, sahen manche Kommentatoren im Ausland das Gespenst einer neuen Zensur heraufziehen. Dieser Gegensatz führt vor Augen, wie unterschiedlich Gesellschaften auf die gleiche Provokation reagieren können – geprägt von Geschichte, Religion und Kultur. Die Performance wirft Fragen auf: Braucht provokative Kunst einen geschützten Raum, oder muss sie gerade an die Schmerzgrenze der Öffentlichkeit vordringen, um Wirkung zu erzielen? Wer entscheidet, was Kunst noch darf und wo sie „zu weit“ geht? Und was sagt es über eine Gesellschaft aus, wie sie solche Grenzfälle handhabt?

All diese Fragen machen Gorgoroths Auftritt vom 1. Februar 2004 zu mehr als einer Anekdote. Er ist ein Denkmal der Extreme. Für die Black-Metal-Szene markiert er einen Höhepunkt der Inszenierungslust und die endgültige Einschreibung dieser Subkultur in das Bewusstsein der Allgemeinheit. Für die polnische Gesellschaft – und sinnbildlich für jede von starken Traditionen geprägte Gemeinschaft – war er eine Herausforderung, ja ein Schock, der aber auch Klarheit schuf über die eigenen roten Linien. Für die Künstler selbst bedeutete er den Triumph, kompromisslos ihre Vision verwirklicht zu haben, und zugleich die Bürde, fortan mit dieser Tat identifiziert zu werden.

Heute, über zwanzig Jahre später, hallt das Echo jener Nacht in Krakau noch immer nach. Die Bilder der „Schwarzen Messe“ auf der Bühne sind Teil des kulturellen Gedächtnisses geworden – eine Mahnung daran, welche Macht Kunst entfalten kann, wenn sie bereit ist, jedes Tabu zu brechen. Gorgoroths Schock-Performance steht damit im Diskurs der modernen Kultur als Extrembeispiel dafür, wie Provokation als Kunstform funktionieren kann. Sie zeigt das Potenzial von Musik und Performance, nicht nur zu unterhalten, sondern gesellschaftliche Wunden offenzulegen und Diskussionen zu erzwingen. Und sie erinnert uns daran, dass zwischen völliger künstlerischer Freiheit und dem Schutz von Gemeinschaftswerten ein Spannungsfeld besteht, das in jeder Generation neu austariert werden muss.

So bleibt das Vermächtnis jenes blutigen Abends ambivalent und doch eindrucksvoll: Es ist die Geschichte einer Band, die kompromisslos bis an die Grenzen ging – und einer Gesellschaft, die darauf mit Abwehr und Selbstprüfung reagierte. Im Spannungsfeld von Kunst und Provokation (sie auch NSBM im Black Metal) hat Krakau 2004 ein Ausrufezeichen gesetzt. Dieses Ausrufezeichen steht bis heute, rot getränkt in 80 Litern Blut, als Erinnerung daran, wie dünn die Linie ist, die Kunst von Ketzerei, Freiheit von Anstoß, und Ausdruck von Exzess trennt.

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